Sei kein Mensch deiner Zeit!
Diese Aufforderung taugt als Mantra, dessen geistiges Bearbeiten zu fruchtbaren Erkenntnissen führen wird. Wie so häufig, ist es eine paradoxe, scheinbar unerfüllbare Forderung, schließlich ist man in seine Zeit hinein geboren und schon bei der Frage, was täglich auf dem Teller landet oder welche Kleidung überhaupt zur Auswahl steht, wird man es schwer finden sich zeitlos zu verhalten. Sofort schließen sich Fragen an nach der Vergangenheit. Und man kommt zur billigen Erkenntnis, dass irgendwann immer alles einmal neu war. Zugeben wird man müssen, dass sich manche Dinge länger über die Zeitepochen erhalten als andere.
Eine gute Methode die Bedeutung des Mantras zu erfassen, ist sie ins Gegenteil zu verkehren: Sei ein Mensch deiner Zeit! Oder in der bekannteren Formulierung hieße es: Man muss mit der Zeit gehen. Erstens, woran orientiert man sich da? Denn „Zeit“ ist eigentlich nur ein Platzhalterwort. Leute, die versuchen mit der Zeit zu gehen, orientieren sich normalerweise am aktuell Neuen in der Technik, im Kleidungs- und Baustil oder den verwendeten Alltagsgegenständen, d.h. sie folgen gern der aktuellen Mode. Mit den allerneuesten Meinungen scheint es allerdings anders zu sein. Hierbei geht es nicht unbedingt um „neu“, sondern um „verbreitet“ genug um übernommen werden zu können. Vorsichtige Typen mögen auch mit der Verwendung neuester Techniktrends so lange warten, bis sie sie als „verbreitet“ genug betrachten.
Grundlegend ähnelt es dem Schwarmverhalten bei Tieren. Einzelne Individuen mögen zwar stets die ersten an einer bestimmten Futterquelle sein, aber das ist nicht mit Pionierverhalten oder individueller Entscheidung zu verwechseln, sondern eher dem Drang der Erste zu sein, mit dem Risiko sich auch zuerst hinopfern zu müssen, falls das Neue eine Gefahr beinhaltet. Daher zieht es den gesamten Schwarm zwar stets hin zur neuen Attraktion, aber immer mit einer gewissen Trägheit, bis sich diese neue Sache „durchgesetzt“ hat und genügend „verbreitet“ ist. Zu versuchen, stets mit der Zeit zu gehen, heißt im wesentlichen also nichts anderes als sich wie Herdentiere zu verhalten. Dafür bedarf es keiner sonderlichen Intelligenz oder Individualität. Das ist ein recht automatischer und überdies natürlicher Vorgang. Aber ist es für den Menschen obendrein erstrebenswert sich so zu verhalten? Das Mantra sagt Nein dazu. Warum? Hat es nicht Vorteile für alle?
Spricht man nicht von Schwarmintelligenz? Die Geschichte hat gezeigt, dass die Unterordnung des Individuums zur jeweils als modern geltenden Massenströmung weder für den Einzelnen noch für die Gesamtgesellschaft vorteilhaft sein muss. Wenn man von Scharmintelligenz spricht, muss man auch von Schwarmdummheit sprechen. Es kann enorme Nachteile haben mit der Zeit zu gehen in dem Sinne, dass man das tut, was gerade alle tun oder zumindest zu tun scheinen. Und wenn man einfach versucht in der Mitte zwischen dem Allgemeinverhalten und seinem individuellen Vorzügen zu bleiben, schwimmt man trotzdem mitten im Schwarm, denn genau das tun die Anderen auch.
Und zwingt uns der technische Fortschritt nicht zur Änderung unserer Lebensweise und damit zum ständigen Wandel? Nein, er zwingt uns nicht, aber er verführt uns. Wollen wir Wäsche immer noch mit der Hand waschen und die Erledigungen in der Stadt zu Fuß oder mit dem Esel machen? Was wäre die Welt ohne Telefon? Was gibt es gegen die Verbreitung gedruckter Bücher einzuwenden? Spätestens wenn Sie Bäume mit der Axt fällen sollen, sind sie dankbar dafür, dass sich die Motorsäge hier durchgesetzt hat. Gibt es überhaupt so etwas wie zeitlose Technik? Wir hätten heute schon die Möglichkeit unser Gemüse von einem Roboter säen und ernten zu lassen. Technik setzt sich jedoch nicht einfach durch, indem sie verfügbar wird. Technik muss sich bewähren. Technik muss mit Technik erschaffen werden. Insbesondere muss die gesamte gedachte Gleichung der Kosten-Nutzen-Rechnung langfristig und sogar gesamtgesellschaftlich aufgehen. Und zu guter letzt wäre es eine Dummheit etwas zu tun, nur weil es möglich ist. Mit etwas Nachdenken wird man also zumindest im Ansatz relativ zeitlose Techniken entdecken können und sogar vorhersehen können, welche Technologien sich definitiv auch in Zukunft nicht durchsetzen werden und welche uns auch in den nächsten Jahrhunderten erhalten bleiben.
Auf dem Zeitlos Fest treffen sich Menschen, die immer wieder neu entscheiden, ob eine Sache oder ein Gedanke sinnvoll ist oder nicht. Oft ist es so, dass die Sinnhaftigkeit einer Sache einfach dadurch zum Ausdruck kommt, dass sie sich über lange Zeit bewährt hat. Allerdings ist es etwas vollkommen anderes unüberlegt Traditionen zu übernehmen oder sich bewusst, nach reifer Überlegung für einen bewährten, vielleicht alten Brauch zu entscheiden. Manchmal sind zeitlos lebende Menschen sogar die Allerersten mit neuen Gedanken oder Verhaltensweisen. Wenn ihnen etwas sinnvoll und solide erscheint, nutzen sie es konsequent und können mitunter sogar in einer Nische neue Trends setzen. Was sie antreibt, ist die Suche nach dem Beständigen. Das Beständige kann aber alt oder neu sein.